Kairos


Drei Tage, so ganz anders. Ich will versuchen, sie zu beschreiben. Es werden Fragmente bleiben. aber auch Annäherungen an ein, mein Thema.

Am Anfang stand wie so oft, eine Sendung im Deutschlandfunk, vermutlich ein „Büchermarkt“. Ein Beitrag, in dem erwähnt wurde, dass Jenny Erpenbeck den „Booker-Preis für „Kairos“ bekommen habe.

Kairos – ein Begriff für die Zeit, für den günstigen Zeitpunkt einer Entscheidung, eines Ereignisses. Und mich triggerte auch der Name Erpenbeck. Eine kurze Erwähnung bei Valentins Erzählung über die Kunstaufnahmefahrten der Fotothek, die er als Fachreferent begleitete, vor vielen Jahrzehnten, lange vor unserer Zeit. Es wird Fritz Erpenbeck gewesen sein, der Großvater, mit seiner Kunstsammlung in der Wohnung in der Berliner Stalinallee.

Nach dieser Rundfunksendung habe ich das Buch in der städtischen Bibliothek gesucht, es vorgemerkt, als eBook. Das Buch hatte andere Leser mit ähnlichen Leseinteressen, es dauerte, bis ich es lesen konnte. – Meine Augen sind so schlecht, dass ich Papier kaum noch lesen kann – welch ein Segen ist die Technik da für mich. – Nun endlich am Sonntag, auf der Heimfahrt von Dresden, die Mitteilung der Stadtbibliothek, ich könne das Medium ausleihen.

Montag Morgen, das Tablet aufgeladen, das Buch geladen und mich fesseln lassen. Der Beginn, dass Thema, der Stil – es fiel mir so schwer, die Finger davon zu lassen. War es am Beginn die Duplizität der Ereignisse, so wurde im Verlauf eine eigenständige Geschichte daraus. Sie war nun wieder gelöst von eigenem, so ganz anders der Verlauf der prägenden Liebe und doch blieb diese gemeinsame Wurzel der beiden erwachsen werdenden fast gleichaltrigen Frauen. Die doch so verschiedenen Leben in diesem halben Land – wie hätte sich alles unter umgekehrten Vorzeichen entwickelt. Fast konnte ich das Buch nicht aus der Hand legen, nahm es mit in die Träume, dachte an einzelne Szenen von Valentins und meiner „Ur- und Frühgeschichte“, unsere Begegnungen in diesem schicksalshaften Sommer 1988 – die Fahrt nach Berlin, der Besuch im Ungarischen Kulturinstitut, der erste gemeinsame Cocktail, in Berlin kannte uns keiner, wir konnten unbeschwert sein einen Tag lang. Ein Sommertag, wie einige andere auch. Nahmen wir anderen etwas weg, wenn wir uns im Kino trafen, bei Dr. Stiebert, wir gemeinsam wandern gingen, in der großen Romantik-Ausstellung im Albertinum? Es war eine geistige Beziehung, kaum Händchen haltend und doch sehr intim. Prägend und tragend in die Zukunft. Wenige Tage lagen zwischen dem ersten „Du“ und doch kannten wir uns schon so lange, hatten uns vertraut miteinander gemacht und vertrauten einander.

Erst 1994 konnten wir auch an diesen Tag anknüpfen, ihn wiederholen und dann doch nicht mehr. Die Unbeschwertheit war nicht wiederholbar, dazwischen lagen schwere Jahre, Jahre voller Schuld und Einsamkeit, Jahre mit schwerer Erinnerung und doch einem unauslöschbaren Bekenntnis zueinander. Die Orte hatten sich verändert, aber die Welt war größer und vielfältiger geworden. Und wir konnten diese Welt gemeinsam erkunden, haben glückliche Zeiten eingepflanzt in uns – konnten Träume leben, auch wenn uns Alpträume immer mal wieder einholten.

Nun also dieses Buch, so lange hatte ich kein Buch so intensiv am Stück gelesen. Das letzte war wohl „Margot“ und vorher „Der Turm“- Valentin hatte anderen von meiner „Lesart“ berichtet, verwundert, etwas stolz und in diesen Zeiten ganz den Alltag übernehmend. Wie gerne hätte ich jetzt mit ihm gemeinsam gelesen, gefragt, ausgetauscht, seine alte Erpenbeck-Erzählung ebenso herausgeholt aus seiner Erinnerung wie Erinnerungen an unsere Gemeinsamkeiten.

Und es gibt Erinnerungsfetzen, die ich nicht erklären kann, wo sie her kommen und die mich einladen, tiefer zu versinken. Da ist das Zitat „Erinnere Dich. Du musst Dich erinnern“. Woher kommt es mitten in der Nacht? ich recherchiere es – Horns Ende von Christoph Hein. Wann las ich es? Gemeinsam, ich nach 1988? Ich weiß es nicht mehr, werde es aus der Stadtbibliothek holen – egal, wie schwer das Lesen wird.

Aus dieser tiefen Erinnerung kommen aber auch Spuren meines neuen Lebens, die ich jetzt lege. Und das macht Mut und Hoffnung – vielleicht ist Valentin doch auch ein bißchen froh darüber.

PS:

Ich lese das heute nicht noch einmal durch, geschrieben habe ich es fast ohne Luft zu holen, die Worte sind ungewägt.

Wer wird dies lesen, wer versteht es? Wem gebe ich es proaktiv, um Verständnis werbend? Dies gilt für so einige der Beiträge hier und ich bin selbst gespannt darauf, wie es weiter geht.

Wie schön wäre jetzt noch ein Abendsegen von Cornelia Egg Möwes – ich verabschiede mich für heute von hier und wechsele in die analoge Welt.


Eine Antwort zu “Kairos”

  1. Ich habe deinen Text gelesen … so, wie ich alle Texte von dir lese. Dein Blog ist immer in einem offenen Fenster im Browser und ich schaue oft, ob du etwas Neues geschrieben hast.

    Die innere Auseinandersetzung in diesem Beitrag gefällt mir! Vor allem, weil er Positives durchscheinen lässt. Ich bin gespannt, wie es weitergeht.

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